Wie leicht verstehen wir Redewendungen?

„Sich auf Glatteis begeben“, „mit leeren Händen kommen“, „auf eigene Faust handeln“, „das Thema wechseln“ – von solchen Redewendungen kennen wir alle hunderte oder sogar tausende. Manche davon sind wörtlich gemeint, viele aber normalerweise ganz und gar nicht. Schließlich gibt es auch Redewendungen, die dazwischen liegen: Sie sind oft teilweise wörtlich gemeint, bedeuten aber mehr als das. Z.B. meinen wir mit „er kommt mit leeren Händen zur Party“ wirklich, dass jemand nichts in den Händen hat – nur bedeutet das eben mehr, nämlich: Der Gast liefert keinen Beitrag zur Party oder bringt den Gastgebern kein Geschenk.

Aber wir verstehen alle bekannten Redewendungen mühelos und automatisch. Oder etwa nicht?

Verstehen wir „er wechselt das Thema“ leichter, weil damit genau das gemeint ist, was die Wörter wortwörtlich aussagen? Und ist „sie begibt sich auf Glatteis“ oder „er handelt auf eigene Faust“ doch schwerer zu verstehen – weil es nicht wortwörtlich gemeint ist? Und was ist mit den Redewendungen, die dazwischen liegen?

Zum einen kommt das darauf an, ob wir die Redewendung wirklich kennen. Wie bekannt eine Redewendung ist, scheint auch zu beeinflussen, wie leicht verständlich wir sie einschätzen. Zum anderen kommt es aber auf den Zusammenhang an, in dem wir sie lesen oder hören. Und schließlich hängt es auch etwas davon ab, was genau wir mit welcher Methode testen. Lesen Sie weiter unten die Ergebnisse der Experimente.

Eins sei verraten: Es gibt tatsächlich Unterschiede!

Ich wollte auch wissen: Finden Menschen denn wirklich, dass diese Redewendungen unterschiedlich stark wörtlich sind? Bewerten sie sie verschieden? Lesen Sie weiter für die Ergebnisse!

UMFRAGE: Finden wir manche Redewendungen wörtlicher als andere?

Zunächst habe ich mehrere Online-Umfragen durchgeführt. Unter anderem sollten Deutsch-Muttersprachler auf Skalen von 1 bis 5 bewerten, wie wörtlich verschiedene Redewendungen sind.

Die Redewendungen habe ich (und ein paar andere Linguisten und Nicht-Linguisten) vorher nach bestimmten Definitionen kategorisiert (da kam die Frage „wie wörtlich genau?“ noch nicht ins Spiel). „Sich auf Glatteis begeben“ und „auf eigene Faust handeln“ und hunderte weitere habe ich als metaphorisch (Metapher) klassifiziert, da ihre wörtliche und ihre nichtwörtliche Bedeutung komplett verschieden sind: Die „eigene Faust“ z. B. hat wortwörtlich erstmal nichts mit der „Unabhängigkeit“ oder dem „Handeln alleine“ zu tun.

„Mit leeren Händen kommen“ oder auch „jemandem knurrt der Magen“ bedeutet noch ungefähr das, was sie wortwörtlich aussagen, aber ihre Bedeutung geht über die wörtliche hinaus (oder bleibt manchmal darunter): Es ist eben nicht nur das „Knurren“ des Magens gemeint, sondern das Knurren bedeutet „Hunger“, was nicht wörtlich dasteht. Solche Redewendungen sind metonymisch (Metonymien).

Wörtliche Redewendungen wie „das Thema wechseln“ (wo es nur eine Bedeutung gibt, und das ist die wörtliche) waren auch dabei. Sie bedeuten das, was sie aussagen: Das Thema zu wechseln.

Insgesamt haben über 400 Erwachsene aus Deutschland mit nur Deutsch als Muttersprache an diesen Umfragen teilgenommen und Redewendungen bewertet – jede*r zwischen ein paar Dutzend und wenigen Hundert Redewednungen. Fast alle Teilnehmenden wurden auch in die Ergebnisanalyse aufgenommen.

Die Ergebnisse zeigen:

1. Egal, wie bekannt eine Redewendung ist: Menschen können in der Tat recht differenziert entscheiden, ob eine Redewendung „extrem wörtlich“, „überhaupt nicht wörtlich“ oder etwas dazwischen ist.

2. Metonymische Redewendungen werden als viel wörtlicher wahrgenommen als metaphorische. Der Unterschied ist deutlich und statistisch hochsignifikant. Das ist immer ein Durchschnitt, d.h. einzelne metonymische Redewendungen sind doch einmal weniger wörtlich als einzelne metaphorische Redewendungen, aber das sind eben Einzelfälle.

3. Metaphorische Redewendungen haben – laut der Bewertungen – eine größere Spannbreite zwischen „eher wörtlich“ und „überhaupt nicht wörtlich“: Sie sind also unterschiedlicher. Unter metonymischen Redewendungen dagegen gibt es weniger Unterschiede, sie werden tendenziell eher als „wörtlich“ wahrgenommen.

4. Ganz klare Unterschiede erkennen MuttersprachlerInnen zwischen metonymischen und wörtlichen Redewendungen – und erst recht zwischen metaphorischen und wörtlichen Redewendungen.

Mehr Details? Hier weiterlesen zu Hintergründen, Details zu den Experimenten und Versuchspersonen, den Statistikmethoden und den Ergebnissen.

EXPERIMENT: Lesen wir wörtliche Redewendungen schneller – oder nichtwörtliche?

Verstehen wir wörtliche Redewendungen in natürlicher Sprache automatisch leichter als metonymische oder metaphorische?

Das kann man zum Beispiel überprüfen, indem man misst, wie schnell Menschen Redewendungen lesen. Die Aufgabe lautet: So schnell wie möglich lesen, aber auch so, dass man alles versteht (was durch Textfragen überprüft wird). Die Methode heißt selbstgesteuertes Lesen (Link zu englischem Text). Wenn wir Wörter, Ausdrücke oder Sätze langsam lesen, ist das ein Zeichen dafür, dass sie schwer zu verstehen sind. Liest eine Person also die eine Redewendung langsam und eine andere schnell, fiel die langsame Redewendung ihr offenbar schwerer zu verstehen als die schnelle*.

Bereitet der Satz auf die Redewendung vor oder nicht?

Wie schwer etwas zu lesen ist, kommt natürlich auch auf den Zusammenhang an. Bereitet der Satz z. B. auf die Redewendung vor oder nicht?

In „Seit zwei Stunden | knurrt Marie der Magen | und sie will etwas essen“ bereitet der Satzanfang nicht auf die Redewendung vor: „Seit zwei Stunden“ verrät nicht, was inhaltlich als nächstes kommt. Er ist neutral.
In „Seit zwei Stunden will Marie etwas essen, denn | ihr knurrt der Magen“ dagegen bereitet der erste Teil des Satzes inhaltlich auf die Redewendung vor, denn „Seit zwei Stunden etwas essen wollen“ legt sozusagen eine Basis dafür, dass es um Essen und Hunger geht, und „denn“ zeigt auch eine kausale Verbindung an.

In zwei Experimenten habe ich die eine und die andere Art von Satz untersucht, immer mit der Frage: Wie leicht werden die verschiedenen Grade von Wörtlichkeit verstanden, wie schnell also werden welche Redewendungen gelesen?

Ergebnisse:

1. Wörtliche und metonymische Redewendungen waren offenbar immer leichter zu lesen als metaphorische und Sätze ohne Redewendungen (die statt der Redewendung dann einen anderen, möglichst ähnlichen Teilsatz hatten).

2. Die Redewendungen waren nur dann eindeutig leichter zu lesen als Sätze ohne Redewendungen, wenn die Lesenden sie inhaltlich erwarten konnten. Sonst waren sie genauso „schwer“ wie Sätze ohne Redewedung.

3. Wenn die Sätze neutral waren („Seit zwei Stunden“), dann waren metonymische Redewendungen sogar schneller und leichter zu lesen als wörtliche Redewedungen. Die Reihenfolge von schnell zu langsam lautet also:

Wenn die Sätze vorbereiteten („Seit zwei Stunden will Marie etwas essen, denn“), dann waren die wörtlichen Redewendungen am schnellsten und einfachsten von allen. Aber dann waren die Unterschiede zwischen allen Redewendungen auch nicht so groß wie bei den neutralen Sätzen. Die Reihenfolge von schnell zu langsam:

Die Folgerungen daraus:

  • Vorbereitende Sätze machen es leichter zu verstehen, was als nächstes kommt. Das ist nicht überraschend. Außerdem: Mit Vorbereitung sind die Unterschiede in den Redewendungen danach nicht mehr ganz so wichtig.
  • Höhere Wörtlichkeit ist leichter zu verstehen als Nichtwörtlichkeit. Aber das gilt nur mit Einschränkung: Eine weitere Eigenschaft scheint in Konkurrenz zu Wörtlichkeit zu stehen. Weiterlesen…

*Warum ein Text schwerer zu lesen sein kann als ein anderer, kann sehr viele Gründe haben. Diese müssen bestmöglich kontrolliert und ausgeschlossen werden, daher ist das Erstellen und Analysieren solcher Experimente sehr viel Aufwand und Arbeit.

EXPERIMENT: Verstehen wir Wörter schneller, wenn sie wörtlich mit der Redewendung zu tun haben?

Beim Lesen gibt es offenbar Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Redewedung. Allerdings sollten Forschungsfragen am besten mehrmals und mit verschiedenen Methoden untersucht werden. Bei den Experimenten zuvor konnten Lesende ihre Geschwindigkeit selbst steuern. Wie ist es aber, wenn die Geschwindigkeit vorgegeben ist?

In einer lexikalischen Entscheidung mit semantischem Priming ist die Aufgabe, immer eine Buchstabenreihe zu lesen und so schnell wie möglich zu entscheiden, ob sie ein (deutsches) Wort ergibt oder nicht. Je enger dabei das Wort mit dem verwandt ist, was man zuvor gehört hat, desto schneller kann man diese Entscheidung treffen. Das heißt: Wenn wir hören „Eva läuft ein Schauer über den Rücken“, reagieren wir schneller auf „kribbelnd“ oder „schaurig“ als auf beispielsweise „bestechlich“ oder „faul“. In der Aufgabe werden natürlich auch Buchstabenreihen gezeigt, die keine Wörter sind, wie z. B. „gohrig“ oder „klabbend“. Diese interessieren aber für die Forschungsfrage nicht, sondern sind nur da, weil die Aufgabe für die Versuchspersonen sonst keinen Sinn ergibt.

Hier nun die Forschungsfrage:

Sind die Reaktionen schneller, wenn ein Wort mit der Redewendung wörtlich verwandt ist („kribbelnd“)? Oder wenn es nichtwörtlich verwandt mit der Redewendung ist, also mit der eigentlichen Bedeutung der Redewendung („schaurig“)?

Darüber hinaus ist für dieses Projekt besonders interessant, ob es einen Unterschied bei metonymischen (also wörtlicheren) im Vergleich zu metaphorischen (nichtwörtlichen) Redewendungen gibt.

Wenn ja, könnten wörtlich verwandte Wörter („kribbelnd“) bei metonymische Redewendungen schneller sein als bei metaphorischen.

Um möglichst solide Ergebnisse zu bekommen, habe ich für diese Fragen dasselbe Experiment 2x gemacht. Einmal im Labor und einmal mit Teilnehmenden, die zu Hause an ihrem Computer waren. Die „zu Hause“-Gruppe war doppelt so groß wie die andere und ihre Altersspanne war größer (auch das Alter beeinflusst die Reaktionsgeschwindigkeit: Je älter wir werden, desto langsamer werden unsere Reaktionen).

Ergebnisse

1. Die Reaktionen auf nichtwörtlich verwandte Wörter („schaurig“) sind immer schneller als auf wörtliche. Das ergibt auch Sinn, denn diese passen am besten zur Bedeutung der Redewedung.
Es zeigt, dass das Gehirn die Bedeutung der Redewendung sofort abruft und nicht erst dann, wenn es sie wortwörtlich interpretiert hat und feststellt, dass das fürs Verständnis nicht viel hilft. (Das hat man vor wenigen Jahrzehnten noch geglaubt.) Es zeigt also auch – wenig überraschend – dass nichtwörtliche Verwandtschaft bei Redewendungen mehr Sinn hat als wörtliche. Das gilt natürlich am meisten dann, wenn das Gehirn die Redewendung kennt und erkennt (darauf hin habe ich die Redewendungen auch kontrolliert).

2. Ob es einen Unterschied zwischen metonymischen und metaphorischen Redewendungen gibt, ist nicht ganz klar. Verschiedene statistische Analysen können diese Frage leider nicht eindeutig beantworten. Aufgrund der Daten gehe ich davon aus, dass wenn es einen Unterschied gibt, dieser sehr klein wäre (etwa 10 Millisekunden).

Hier erkläre ich die Hintergründe, Details zu den Experimenten und Versuchspersonen, den Statistikmethoden und den Ergebnissen. Diese interpretiere ich auch genauer (alles auf englisch).

Übrigens…

…habe ich die Experimente mit logistischen, linearen und Bayes’schen Regressionen und Korrelationsanalysen ausgewertet. Was ist das?